Als großer Fan der Bücher von Jack Vance, bizarrer Settings und Liebhaber einfacher Spielregeln und jemand, der sich an die Inserate in zahlreichen Wizard-Ausgaben erinnern konnte, war ich wohl Teil der Zielgruppe des Crowdfunding-Projektes für eine vollfarbige sechste Edition des unverwüstlichen Außenseitersystems beim Verlag Everything Epic. Wie in allen (!) anderen Ausgaben des Spiels hatte mit Steve Sechi der Erfinder des Systems die Fäden in der Hand, dessen Schreiben mir bisher gut gefiel – ich merke gerade, dass ich mir die nicht gerade billige Prachtausgabe offenbar gerade zu rechtfertigen versuche, da bin ich lieber gleich ehrlich: Ich mag einfach prächtige Schuber mit dicken, bunten Büchern darin. Weiter im Text.
Hinweis:
In einem älteren Beitrag habe ich einiges über Talislanta, seine Geschichte und die Regeln aufgeschrieben, das das ich hier möglichst nicht wiederholen will – ich empfehle daher, meine Erfahrungen mit der deutschen Fassung von 1991 vorab zu lesen. → Talislanta von 1991 – immer noch spielenswert ?
Was will das Spiel ?
Die Regeln
Die Epic Edition sollte ursprünglich die Regeln für die fünfte Edition von Dungeons & Dragons verwenden, aber nach leidenschaftlichen Reaktionen der Fangemeinde wurde diese Idee aufgegeben – es erschien ein separates 5E Conversion Book, aber die Standardregeln sind eine neue Version der derselben Action Table Mechanik,Das ist alles sehr einfach und schnell zu lernen, Talislanta eignet sich vor allem für erzählfreudige Runden ohne großen Simulationsanspruch. Es ist eher auf heroische Action ausgelegt und trifft im Spielablauf den Ton des Settings gut: Die Figuren haben von Anfang an einiges drauf und mit ein wenig Grips sind ihre Erfolgschancen bei auch schrägeren Ideen hoch.
Es gibt kaum Sonderregeln und Ausnahmen: Die Action Table Mechanik - ein W20 wird geworfen, auf das Ergebnis werden Skillwerte addiert und das Ergebnis auf einer kurzen Tabelle ermittelt - handelt das komplette Spielgeschehen ab – wer das gelernt hat, kann alle Aspekte von Talislanta spielen!
Die Epic Edition enthält Massenkampfregeln und erstmals Regeln für Windschiffe. Was es nicht gibt, sind Charakterlevels: Im Laufe der Abenteuer erhalten die Spielcharaktere (SC) Erfahrungspunkte, mit denen die Skills verbessert werden können.
Magie
In Talislanta gibt es 11 Orden der Magie. Nur die mächtigsten Charaktere gehören mehr als einem an:
- Cartomancy: Die Schicksals- und Glücksmagie der Zodar, die mithilfe eines Kartendecks gewirkt wird.
- Cryptomancy: Magische Zeichen und Runen.
- Crystalomancy: Die Lehre von Kristallen und deren magischen Eigenschaften
- Elemental Magic: Angehörige dieser Magieschule ziehen ihre Macht aus einer der Elementarebenen
- Invocation: Anrufung von übernatürlichen Wesen
- Mysticism: Studium des Geistes und der Seele
- Natural Magic: Naturmagie, genau: Tiere, Pflanzen, Flechten – alles, was lebt.
- Necromancy: Entropie, Tod, Verfall. Alles, was Spaß macht!
- Shamanism: Totems und die Traumreiche.
- Witchcraft: Die älteste Form der Magie – und gern auch Schwarze Magie genannt.
- Wizardry: Die Manipulation von Strömungen magischer Energien
Ähnlich wie in der Charaktererschaffung werden neue Spielende zu Beginn mit der Anzahl von Optionen schnell überfordert, andererseits ist das Magiesystem schnell und flexibel – und später im Spiel bleiben alle Zauber effektiv – es gibt nicht das Problem der später nutzlosen „Anfängerzauber“ anderer Rollenspiele.
Die Bücher
Talislanta Player's Guide
Es ist ein dickes Buch von 248 Seiten, aber es ist derart mit Material vollgestopft, dass es sich viel umfangreicher anfühlt – auf positive Weise.
Talislanta Atlas & GM Guide
Das ist alles übersichtlich in einer durchgängigen Struktur angelegt und reich illustriert, weitgehend ohne Spielwerte. An vielen Stellen gibt es Textkästen, in denen Reisende aus Talislanta über ihre Erlebnisse berichten. Diese Schnipsel sind witzig geschrieben und lockern das Buch angenehm auf.
Die Detailtiefe ist hier nicht so ausgeprägt wie zum Beispiel in Aventurien, so dass der Zeitaufwand für die Spielleitung (SL) sich in Grenzen hält, es gibt zudem genug weiße Flecken auf der Karte, um eigene Erfindungen unterzubringen.
Talislanta Bestiary
Schön finde ich, dass trotz der für dieses Spiel typischen Tendenz zum Bizarren alle Wesen gut im Spiel einsetzbar sind und die Spielwerte knapp und übersichtlich präsentiert werden.
Der Anteil talislantischer Varianten von „Standardviechern“ ist erfreulich gering.
Talislanta 5e Conversion Guide Book
Das Talislanta Bestiary benötigen D&D-Fans nicht, dessen Inhalte und Artwork sind zu 100% in diesem Buch enthalten.
Für die Magie wird auf das D&D-Regelwerk zurückgegriffen, hier gibt es keine zusätzlichen Materialien. Hier fehlen leider D&D Spielwerte für die schönen magischen Gegenstände aus dem empfehlenswerten Talislanta Atlas & GM's Guide, die aber bei Bedarf schnell selbst zu erstellen sind.
2017 erschien eine erste Version von Talislanta mit 5E-kompatiblen Regeln, die aber in einer frühen, düsteren Epoche des Settings spielte – Talislanta: The Savage Land, eine mögliche Alternative zu diesem Buch.
Spielpraxis
Ich habe einige mehrstündige Spielrunden gespielt, die zuerst als One-Shot geplant waren und sich zu einer fortlaufenden Kampagne entwickelten. Charaktere wurden entweder mit der SL erschaffen oder allein zuhause, was kein größeres Problem darstellt, da hier nichts dem Würfelglück überlassen bleibt – mit einer Ausnahme: Dem Startvermögen.
Dass Zauberkundige von Anfang an eine zweistellige Auswahl an Zaubern zur Verfügung haben, bremste uns allerdings aus – unsere Weiße Hexe der Mirin brauchte zu Beginn eine Weile, den passenden Zauber zu wählen und sich dann auch noch den Spell Level (also die Machtstufe und damit den Schwierigkeitsgrad) zu überlegen. Mit der Zeit fand sie sich aber besser zurecht.
Die Spielwelt Talislanta (eigentlich nur ein Kontinent) mit ihren zwei Sonnen und sieben Monden und der ungewöhnlichen Bevölkerung verzichtet auf viele pseudo-europäische Fantasyklischees und fühlt sich öfters wie die berühmte Cantina-Szene aus Star Wars in planetenweiter Ausdehnung an. Genau das erwies sich in der Praxis als positiv: Unsere Runden sind voller neuer Entdeckungen, jede Begegnung mit den seltsamen Wesen ist voller Überraschungen – es macht Spaß, Fantasy einmal außerhalb der eigenen Komfortzone zu erleben: Der Sense Wonder ist enorm.
„Buchhaltungaufgaben“ nehm kaum Zeit in Anspruch – es gibt wenige Ressourcen, die verwaltet werden müssen und die SL muss keine Berechnungen für Erfahrungspunkte oder ähnliches übernehmen.
Fazit
Es ist erstaunlich, wie frisch sich Talislanta heute noch anfühlt. Das gilt nicht allein für das äußerst eigenständige Setting, sondern mindestens ebenso für die Regeln. Ich würde auf jeden Fall empfehlen, dem Action Table System eine Chance zu geben, trotz der soliden 5E-Umsetzung. Das ist am Ende natürlich auch eine Frage der persönlichen Vorlieben.
Trotz der Einfachheit empfehle ich Talislanta für absolute SL-Einsteiger*innen eher nicht : Die Regeln richten sich bei aller Einfachheit an erfahrenere SL und erfordern oft eine gewisse Improvisationsfähigkeit. Die Bücher sind eher als Nachschlagewerke für den Einsatz am Spieltisch gedacht, sie liefern keine ausführliche Einführung in die Rolle der SL, Beispiele aus der Praxis fehlen. Die bunte Fülle der Spielwelt kann ungeübte SL leicht überfordern, weil man eben nicht immer auf bekannte popkulturelle Fantasyklischees zurückgreifen kann.
ist meines Wissens derzeit nur direkt aus den USA zu bekommen ist inzwischen durchaus auch bei uns im gut sortierten Rollenspielfachhandel1 zu bekommen und immer noch eine größere Anschaffung. Man bekommt mit 1200+ farbigen Seiten und zirka null Füllmaterial einen ordentlichen Gegenwert, aber ich rate ich zu einem Blick auf die PDF, die einfach eine Menge fürs Geld bieten.
Falls Du Interesse hast, würde ich Dir empfehlen, zuerst eine der legal auf talislanta.com verfügbaren älteren Versionen des Spiels anzuschauen. Ansonsten reicht es aus, sich zuerst den Talislanta Player’s Guide oder das Talislanta 5e Conversion Guide Book anzuschaffen, darin ist alles Wichtige für die ersten Runden enthalten, darunter ein Überblick über das Setting.
Klinge ich ein bisschen begeistert? Selten habe ich mit einem im Kern sehr alten Spiel derart viel Spaß gehabt und ich bin mir sicher, einigen von Euch wird es so gehen wie mir. Gebt Tal eine Chance!
Pro
- Saubere und vollständige Neufassung des Klassikers
- Klar und unterhaltsam geschrieben
- Überbordende, oft bizarre Ideenflut für jede Stimmung
- prächtig illustrierte Hardcover mit extrem dicken Buchdeckeln
- PDFs mit Verzeichnis
- klassische leichte Regeln mit mehr Charakterdetails als zuvor, wahlweise 5E Version
- keine Klassen, keine Stufen
- leicht zu erlernen und flüssig in der Spielpraxis
- starke Fokus auf Charakterspiel und epische Action
- enorm vielfältige nicht-westliche Spielwelt
Contra
- Fülle an Auswahlmöglichkeiten kann überfordern
- Spielwelt hat keine konsistente Stimmung
- Korrektorat könnte besser sein, auch wenn die Spielbarkeit dadurch nicht eingeschränkt ist
- Zweifel an der Haltbarkeit der Buchbindung des GM Guide
- Kein Einführungsabenteuer enthalten (ältere sind aber kostenlos auf talislanta.com zu finden)
- Artwork wird wie bei anderen kleinen Verlagen gern wiederverwendet
- Eine Handvoll Illustrationen (~ 5 in fast 1300 Seiten) sieht stark nach generativer KI aus. Für mich aufgrund der Seltenheit kein entscheidendes Argument gegen das Spiel, aber das war komplett überflüssig.
Links
- Talislanta bei Sphärenmeisters Spiele
- Talislanta im Everything Epic Store
- PDFs bei DTRPG
- Talislanta.com
- Artwork der Epic Edition inkl. der meisten Archetypen
- Offizieller Talislanta Discord
- Talislanta auf BookWyrm
Das Artwork stammt aus den frei zugänglichen Promo Materialien und ist natürlich © Everything Epic. Die Fotos stammen vom Autor (mir).
1 Danke an Fuchs für den Hinweis zu Bezugsquellen hierzulande!
@Moonmoth@moonmoth.de @moonmoth@pnpde.social jetzt will ich mir die Box kaufen. Jesses.
Das war auch eines der wenigen Crowdfundings, bei denen ich „all in“ gegangen bin. Ich fühle mit Dir.
@Moonmoth wenn ich nur Platz hätte…
Den Schuber bekommt man derzeit auch bei Roland.
Danke! Das ergänze ich besser mal. Übrigens hat Roland auch das Player’s Manual einzeln. Das reicht zum Spielen lässig aus.