Talislanta von 1991 – immer noch spielenswert?

Vielleicht kennt ihr auch Rollenspiele, die ihr seit langer Zeit irgendwie interessant findet, sie aber nie spielt oder auch nur lest? Nun, das deutschsprachige Talislanta hatte offenbar ganze Rudel von Interessierten, die neugierig um das Buch herumstrichen, es aber weder kauften noch spielten: Das deutschsprachige Talislanta mit seinen insgesamt drei erschienenen Bänden war über Jahre ein klassischer Ladenhüter, den ich immer wieder kurz in der Hand hatte, um dann doch nicht zuzuschlagen. Aber Moment, vielleicht gehe ich nochmal einen Schritt zurück, denn einige von euch stellen sich vielleicht die Frage:

Was ist eigentlich Talislanta?

Talislanta ist ein recht regelleichtes Fantasy-Rollenspiel in einer in erster Linie von den Autoren Jack Vance1, Michael Moorcock und nicht zuletzt Marco Polo (!) inspiriert wurde. Die gleichnamige Spielwelt ist außerordentlich bunt und bizarr und tendiert ganz klar in Richtung „Sword & Sorcery Fantasy trifft auf die Cantina in Star Wars“. Das Rollenspiel stammt aus der Feder von Stephan Michael Sechi2, der grafische Teil stammt vor allem aus der Hand der leider inzwischen verstorbenen P.D. Breeding-Black, deren unverwechselbarerStil das Spiel maßgeblich geprägt hat.

"no elves…" Inserat aus dem Wizard
Werbeanzeige aus einem "Wizard" Magazin
In zahlreichen Ausgaben des TSR-Hausmagazins Dragon gab es Inserate, in denen Bard Games seit dem Erscheinen 1987 immer wieder für das Spiel warb - vor allem der Einstieg mit „No Elves…“ blieb vielen in Erinnerung. Die Unmenge spielbarer Völker und der Anspruch, weniger, dafür schnelle Regeln für fortgeschrittene SL mit einem eher erzählerischen Anspruch anzubieten waren andere Sachen, die das Spiel auszeichneten. Ich bin persönlich ziemlich sicher, dass das widerborstige Marketing gegen die damals allgegenwärtigen Fantasy-Tropes (Elfen, Zwerge, Orks…) sicherlich einige potentielle Kund*innen abgeschreckt hat - Talislanta ist zeitweilig bei größeren Verlagen wie Wizards of the Coast 3 erschienen, hat seine winzige Nische aber nie verlassen. Allerdings haben im Laufe der Zeit haben viele bekannte Namen der Szene an Talislanta gearbeitet, ich nenne hier stellvertretend Jonathan Tweet, John Harper und Robin D. Laws und irgendwie ist das Spiel nicht totzukriegen - es war nie lange ohne Verlag.
Ich glaube, ich habe etwa 1992 das erste Mal durch das schmale Softcover bei unserem damaligen Role Master-Spielleiter geblättert, der die vielen, vielen spielbaren Völker toll fand… aber das waren ihm viel zu wenige Regeln und das war einfach zu einfach. Vor ein paar Jahren habe ich das Buch dann doch gekauft und vor ein paar Tagen dann endlich, endlich auch gespielt.

Die Regeln

Das grundlegende Spielsystem wurde später „Omni-System“ getauft und basiert auf einem W20-Wurf (möglichst hoch!), der mit Fertigkeits- und passenden Attributswerten (Stärke, Konstitution, Intelligenz, Willenskraft, Wahrnehmung, Charisma, Geschwindigkeit, Geschicklichkeit) modifiziert wird. Die Auswirkungen werden mit der folgenden Tabelle ermittelt:

Würfelergebnis Kampf Magie Fertigkeit / Attribut
0 oder weniger Ausrutscher Magischer Unfall Unfall
1-5 Kein Treffer Zauber schlägt fehl Fehlschlag
6-10 Treffer (1/2) Erfolg Erfolg
11-19 Treffer Erfolg Erfolg
20 oder mehr Kritischer Treffer Maximale Wirkung Besonderer Erfolg

Wie ihr schon seht: Generell ist es ein eher cinematisches, heroisches System, in dem Ergebnisse von 6 oder mehr auf einem W20 mindestens Teilerfolge bedeuten - es gibt nur wenige Fehlschläge.
Die anderen Würfel des klassischen Rollenspielsets werden nur für Schaden im Kampf und andere sekundär wichtige Aufgaben verwendet. Es gibt auch noch Fertigkeiten, die bestimmte Würfe erleichtern oder besondere Fähigkeiten wie Magie ermöglichen.

Zauber entstammen verschiedenen Schulen der Magie und sie können jeweils auf unterschiedliche Weise eingesetzt werden. Die durchaus auch für die Anwender*innen gefährliche Magie wird aus dem Gedächtnis (maximal 2 Zauber zu Beginn), aus einem Zauberbuch oder mit magischen Gegenständen gewirkt - rein mechanisch funktioniert das alles gleich.
Es gibt keine Klassen, es gibt keine Stufen, alle SC können prinzipiell Magie lernen und kämpfen.

Trotz des Alters des Spiels sind die Regeln nicht „old school“ im Sinne der OSR-Szene wären - es geht hier weniger um Ressourcenmanagement oder rein herausforderungsorientiertes Rollenspiel, sondern tendenziell um Charakterspiel in einer ausgearbeiteten Spielwelt mit einem kompletten Fertigkeitensystem.

Ausbalancierte Regeln sind hier allerdings überhaupt nicht zu erwarten - die Spielbarkeit ist hoch, aber man sollte wohl gar nicht erst damnit anfangen, Talislanta auf stochastische Korrektheit zu untersuchen - die Spielbarkeit ist sehr hoch, aber das hier ist kein taktisches Rollenspiel, das Miniaturen und Battlemaps benötigt.

Charaktere bauen


Tja, eigentlich geht das enorm schnell: Du suchst Dir einfach einen der Archetypen (effektiv „Charakterschablonen“ wie z.B. in Shadowrun) im Buch aus und veränderst die Attribute (3 Punkte verteilen, 1 Punkt abziehen).
Du würfelst das Vermögen aus (das ist der einzige zufällig bestimmte Teil) und trägst besondere Fähigkeiten, Fertigkeiten, aus Ausrüstung und die Trefferpunkte in den Charakterbogen ein. Dann bestimmst Du die Herkunft - damit darfst du dir noch 3 Fertigkeiten aussuchen.

Tja: „Eigentlich“ geht das schnell, aber da es über 40 nichtmenschliche Völker und 30 Menschliche Kulturen gibt, zu denen jeweils 1-4 verschiedene Archetypen im Buch sind. Das liess mich dann doch lange grübeln lassen - will ich einen spitzschädeligen Nagra-Jäger spielen, der Geister sehen kann und mit Vorliebe lebendige Schlangen verspeist oder doch lieber einen phantasischen Traumhändler, der Essenzen aus Träumen herstellen kann? Die „Option Paralysis“ (dt. etwa „Die Qual der Wahl“) hat bei mir ganz hart eingeschlagen und ich habe vor der Runde gleich drei SC gebastelt - im positiven Sinne, weil die sehr phantasievollen Beschreibungen mich sehr inspiriert haben, andererseits konnte ich mich bei dieser Fülle von Möglichkeiten wirklich nur schwer entscheiden.

Im Teil für die Spielleitung wird auch beschrieben, wie individuelle Charaktere (oder neue eben Archetypen) entwickelt werden, aber das habe ich viel weniger vermisst als erwartet: Charaktere fühlen sich trotz ihrer Einfachheit schnell „rund“ an, auf Wunsch gibt es auch noch lange Tabellen, um eine detaillierte Vorgeschichte zu bestimmen - besonders gut gefällt mir die Idee, die Eltern und Mentor*innen der SC und das Verhältnis zueinander auszuwürfeln.

Harte Fakten

Dieses Buch - genau genommen heißt es „Spielerhandbuch und Leitfaden für den Spielleiter“ erschien 1991 beim Fantasywelt Verlag, der auch ein gleichnamiges Magazin herausbrachte. Es enthält u.a. auch Material aus dem später erschienenen Leitfaden für Zauberer und dem ersten Band der nur auf englisch verfügbaren Encyclopaedia Talislanta, es handelt sich aber im Kern um eine Übersetzung des Regelwerkes der Second Edition von 1989.
Auf ca. 160 recht üppig illustrierten Seiten in stolzem Schwarzweiß finden wir neben der Charaktererschaffung, den Regeln für Kampf und Magie mit einem Massenkampfsystem einen Überblick der Spielwelt, eine detailliertere Beschreibung der Stadt Zymril, der Hauptstadt der Sieben Königreiche nebst einer Karte (die Stadt ist sechseckig), dazu umfangreiche Infos für die Spielleitung und ein Einstiegsabenteuer.
Der Autor ist offensichtlich in der Lage, auf dem Punkt zu kommen und viele Informationen auf wenige Seiten zu quetschen. Das Layout ist zweispaltig und insgesamt gut lesbar, die Übersetzung ist gekonnt und sprachlich sauber, allerdings habe ich gleich Fehler und zweifelhafte Entscheidungen gefunden, die einem ordentlichen Korrektorat aufgefallen wären.

Passt die Spielwelt in die heutige Zeit?


Diese sehr alte Talislanta Edition ist ein Werk der 80er Jahre 4 und wie seine literarischen Vorbilder enthält es einige Aspekte, die ich heute problematisch finde - es gibt z.B. Sklaverei in Teilen der Welt, wenngleich sie immer negativ dargestellt wird. Es gibt ganze Völker, die in Sklaverei geboren und teilweise dazu gezüchtet (!) wurden, ebenso wie es auch ganze Kulturen gibt, die als Ganzes stereotyp dargestellt werden, einige davon inspiriert von unserer Welt. Die Spielwelt ist gerade im Hinblick auf Sexualität und Drogen sehr offen, aber es gibt auch heute zu Recht kritisch gesehene Details wie Verführungsmagie. Nur sehr selten gibt es im Werk von P.D. Breeding Black als Haupt-Illustratorin sexualisierte Darstellungen weiblicher Figuren 5.

Insgesamt ist Talislanta aber relativ gut gealtert. Die Spielwelt ist auch heute noch faszinierend in all ihrem enormen Ideenreichtum, sie lässt bei allen faszinierenden Details aber noch genügend Freiraum für eigene Schöpfungen. Wo gibt es schon SC wie Eisriesen (die ohne ihre magischen Amulette schmelzen), Fliegende Schiffe, Dimeonsionsreisen und finsterste Magie, Musiker*innen die Emotionen erkennen können, intelligente Reittiere mit eigener Sprache? Der Sense of Wonder dieser Welt ist ungebrochen und ich kann wirklich nur empfehlen, einen Blick zu riskieren, auch ohne selbst zu spielen.

Kurz: Man kann das heute noch spielen, aber ich würde definitiv Anpassungen vornehmen oder ggf. auf modernere Fassungen zurückgreifen.

Talislanta heute spielen - lohnt sich das?

In der Spielpraxis ist das Regelwerk sehr schnell und eignet sich besonders für phantasievolle, improvisationsfreudige Runden und trifft nach meinem Geschmack einen angenehm spielbaren Punkt, ohne in pures „Handwedeln“ abzugleiten. Talislanta ist ebenso wie andere regelleichten Regelwerke kein Rollenspiel für Einsteiger*innen, es gibt also kein „Das ist übrigens Rollenspiel“-Kapitel, dafür aber einige Hilfen für die SL, grundlegende Vorgehensweisen werden als bekannt vorausgesetzt.
Im Grunde muss nur die SL die Regeln kennen, ähnlich wie in OSR/NSR Rollenspielen enthält der Charakterbogen alle notwendigen Informationen für die Spielenden.
Ich selbst war überrascht, wie frisch und modern sich Talislanta nach all diesen Jahren anfühlte - die Regeln sind überhaupt nicht sperrig, das Setting funktioniert hervorragend und die SC sind geschickt in der Welt positioniert, so dass sich auch Neulinge schnell heimisch fühlen. Für mich hat Talislanta nichts von seinem eigentümlichen Reiz und seiner Spielbarkeit verloren und ich kann seinen Ruf als kleiner Rollenspielklassiker gut verstehen.
Heute ist der Einstieg denkbar einfach: So gut wie alle jemals erschienenen englischsprachigen Materialien sind ganz legal und kostenlos als PDF zu haben, einige davon auf DriveThruRPG, die meisten aber auf der offiziellen Webseite auf Talislanta.com. Wer es lieber deutsch und gedruckt haben will: Die hier von mir vorgestellte deutsche Ausgabe ist antiquarisch immer noch zu haben.

Eine umfangreiche neue Gesamtausgabe („Final Edition“) kommt 2024 bei Everything Epic. Die PDFs sind zu diesem Zeitpunkt bereits käuflich zu erwerben. Dabei handelt es sich um die erste vollfarbige Ausgabe. Dazu gibt es wahlweise auch die Möglichkeit geben Talislanta mit den D&D 5E Regeln zu spielen, ich würde aber das eigene Regelwerk empfehlen.

Ich habe auf jeden Fall Lust, mich weiter mit diesem Spiel auseinander zu setzen. Wie sieht es bei Euch aus, ist eure Neugierde geweckt? Habt Ihr eigene Erfahrungen?


1. Jack Vance mochte Talislanta und hatte Kontakt mit dem Autor.
2.Manchmal erscheint als Vorname des Designers neben „Stephan“ auch „Stephen“ oder „Steve“ und einmal auf dem Charakterbogen auch „Stepahn“ - so richtig scheint man sich da nicht festlegen zu wollen. Beruflich ist der Mann ansonsten auch Musiker und Komponist. Er ist auch Designer des 90er Jahre Tabloid-Rollenspiels Pandemonium.)
3. Das war 1992, direkt nach dem Erscheinen dieses Buches und drei Jahre bevor WotC die Dungeons & Dragons Lizenz übernahm.
4. In moderneren Ausgaben des Spiels sind die meisten problematischen Aspekte entfernt oder verändert worden.
5.Nach dem Tod von P.D. Breeding-Black ist das Artwork in der neuesten Edition leider näher an typischer Fantasykunst.

3 Gedanken zu „Talislanta von 1991 – immer noch spielenswert?“

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